Resumee des Symposiums der Deutschen Familienstiftung, Fulda 2013 / Der Band mit allen Beiträgen kann als PDF heruntergeladen werden.
Laszlo Vaskovics / Ludwig Spätling Wenn Kinder- wann Kinder?
Dass Frauen ihre Kinder immer später bekommen, ist ein allgemeiner und zwischenzeitlich bei fast allen Bevölkerungsschichten beobachtbarer, fortschreitender Trend seit Jahrzehnten. Besonders auffällig ist, dass die Vorreiter dieser Entwicklung die Frauen mit höheren Bildung waren und sind: je höher der Bildungstand der Frauen /und je höher ihre berufliche Position desto später bekommen sie ihr erstes Kind oder bleiben kinderlos. Trotz des Wunsches zu früherer Familiengründung wird diese nicht oder nicht „rechtzeitig“ realisiert (Huinink)*.
Die Ursachen sind vielfältig und komplex: Emanzipation der Frauen, höhere Bildungsbeteiligung, längere Bildungswege, späterer Berufseintritt, erschwerte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, erfolgreiche Berufskarriere nicht zuletzt ermöglicht durch eine wirksame Empfängnisverhütung und damit Planbarkeit von Schwangerschaften und Geburten. Einstellungen und Leitbilder mit gewollt späterer Mutterschaft haben sich geändert. Und die Gleichzeitigkeit von Beruf und Familie haben hohe Wichtigkeit erhalten. Dazu kommt die ungewollte Kinderlosigkeit, eine negative Beurteilung der Schwangerschaft durch Arbeitgeber, aber auch durch Arbeitskollegen, ein nicht familienfreundliches gesellschaftliches Umfeld, eine Benachteiligung von Eltern gegenüber kinderlosen Singles, usw.
Die deutsche Gesellschaft und Politik nimmt die kontinuierliche Verschiebung der Erst- und Folgemutterschaft in immer höherem Lebensalter sprachlos zur Kenntnis und stellt sich auf diese Entwicklung ein (Vaskovics). Es werden dabei u.E. gravierende Folgeprobleme dieser Entwicklung verschwiegen und tabuisiert. Die Konsequenzen dieser Entwicklung für Betroffene, für die Gesellschaft, für das Beschäftigungs- und Versicherungssystem werden auch in der wissenschaftlichen und gesellschafts- und familienpolitischen Diskussion unterschiedlich bewertet. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung wurde die Frage kritisch diskutiert und aus verschiedener Sicht von Wissenschaft und Praxis beantwortet: wenn Kinder –wann Kinder?
Der empirische Befund ist eindeutig und unumstritten: Frauen in Deutschland bekommen ihr erstes Kind (und weitere Kinder) seit Mitte des letzten Jahrhunderts in immer späterem Alter. Im Jahr 2012 lag es laut Statistischem Bundesamt bei 29,4 Jahren. Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass deutsche Frauen ihr erstes Kind am spätesten bekommen. Je höher das Bildungsniveau ist, desto höher ist auch das mittlere Erstgebäralter der Mütter – und desto höher ist insbesondere in Westdeutschland auch der Anteil der Frauen, die kinderlos bleiben. Während in älteren Kohorten der Aufschub, der durch die längere Ausbildungs- und Studienzeit bedingt war, durch eine beschleunigte Familiengründung nach dem Abschluss des Studiums etwas ausgeglichen wurde, ist das heute nicht mehr der Fall (Huinink). Als nachgewiesen gilt auch, je höher ihre berufliche Position ist, desto später bekommen deutsche Mütter ihr erstes Kind. In urbanen Regionen ist dieser Prozess weiter fortgeschritten als in ländlichen Gebieten, doch im Laufe der letzten Dekade ist eine konvergente Entwicklung zu beobachten, d.h. späte Mutterschaft wird immer mehr zu einem allgemeinen Muster.
*Anm: Die Autorenhinweise beziehen sich auf die hier veröffentlichten Beiträge
Eltern haben durchaus den Wunsch zu einer früheren Familiengründung. Schätzungen geben ein gewünschtes Erstgebäralter von 27 bei Frauen und 29 Jahren bei Männern an.
Das durch die Betroffenen als „ideal“ angesehene Alter bei der Familiengründung ist in Deutschland deutlich niedriger als das realisierte Alter (Henry-Huthmacher).
Der Begriff „Späte Mutterschaft“ versus „Spätgebärende“ kann nur nach medizinischen Gesichtspunkten definiert werden: Für die (Erst-)Geburten gibt es einen biologisch optimalen Zeitraum, bei dessen Überschreitung Folgeprobleme verschiedenster Art bei den Betroffenen auftreten können. Frauen, die ihr erstes Kind nach dem biologisch optimalen Zeitraum bekommen, werden im Folgenden als „Spätgebärende“ und die Mutterschaft als „Spätmutterschaft“, bzw. „späte Mutterschaft“ bezeichnet.
Kriterien des „richtigen“ Zeitpunkts sind außer der (a) biologisch bedingten Altersgrenzen (b) die Lebensentwürfe („Lebensskripte“; Vorstellungen zum „Zu-Früh“ und zum „Zu-Spät“), (c) soziale und wirtschaftliche Voraussetzungen (Partnerschaft, ökonomische Ressourcen und Absicherung, soziale Ressourcen) und (d) strukturelle Rahmenbedingungen (Ausbildung, Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Zeitsouveränität) (Huinink).
Die Ursachen der „Spätmutterschaft“ sind vielfältig:
- Finanzielle Belastungen für den Nachwuchs, Einschränkung eigener Freiheit, Karriereknick (vgl. BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, 2013).
- Karriere und Geldverdienen stehen bei den 25- bis 35-jährigen Frauen fast höher im Kurs als Kinder und Familie.
- Ausbildungsabschluss als Voraussetzung für Familiengründung
- Die Entscheidung für die Elternschaft wird als verantwortungsvoll angesehen und als konsequenzenreich antizipiert. Das führt auch zu einer späten Familiengründung. Früher musste der Mann „eine Familie ernähren können“, heute müssen zur finanziellen Absicherung die Aussicht auf eine stabile und egalitär organisierte Beziehung und die Vereinbarkeit von Familie und nichtfamilialem Engagement beider Eltern gegeben sein. Problem: Extrem hoher Erwartungsdruck auf Eltern in Deutschland. Dies bedeutet oft eine Überforderung der (potenziellen) Eltern.(Henry-Huthmacher)
- Kinder als Hemmschuh für berufliche Entwicklung .Fehlende finanzielle Mittel für Organisation Kinderbetreuung. Teilzeitfalle. Kinder/Schwangerschaft als berufliche Schwäche im täglichen Konkurrenzkampf. Kinder als persönlicher Hemmschuh für Übernahme leitender Positionen. (Nentwich)
- Umschichtungen der Lebensspannen (Henry-Hutmacher):
– Jugend beginnt heute so früh wie noch nie und erstreckt sich über 15 Jahre – eigener Wert, eigener Rhythmus.
– Verlängerung des Erwachsenwerdens: Beruf – Heirat – Kinder werden in das vierte Lebensjahrzehnt geschoben.
– Lange finanzielle Abhängigkeit
– „Suchschleifen“ werden länger und häufiger;
– Später Auszug aus dem Elternhaus, lange Berufseintrittsphase, lange ökonomische Abhängigkeit können frühe Familiengründung beeinträchtigen.
– Erschwerte Vereinbarung der verlängerten Jugendphase mit eigenen Lebenszielen und Wertvorstellungen, mit früher Familiengründung.
– „Kultur des Zögerns“: Bis zum Alter von 30 Jahren wollen sich viele junge Erwachsene nicht mehr festlegen (Nachwuchs verpflichtet ein Leben lang).
– Orientierungsprobleme zwischen vielen unterschiedlichen gleichberechtigten Lebensmodellen und Optionen der Lebensgestaltung.
- Veränderte Kontrazeption
In Anbetracht dieser Zusammenhänge ist nicht zu erwarten, dass sich der Trend im Alter bei der Familiengründung entscheidend umkehrt (Huinink). Ein Abbremsen oder eine geringfügige Umkehr ist aber nicht in jedem Fall ausgeschlossen, wenn man die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, die auch bezogen auf das Alter bei der Familiengründung besteht, politisch ernst nimmt.
Folgeprobleme für die Betroffenen:
Optimaler biologischer Zeitraum für problemlose Schwangerschaften ist nach Einschätzung der Mediziner die dritte Lebensdekade.
- Danach steigen die Abort- und Komplikationsraten an und die mütterliche Leistungsfähigkeit nimmt ab ( Dietrich),
- hoher zeitlicher und finanzieller Aufwand für die reproduktionsmedizinischen Maßnahmen
- abnehmende Eizellreserve in Abhängigkeit vom Alter der Frau,
- Abnahme erfolgreicher medizinischer Behandlung mit zunehmendem Alter.
- Die Wahrscheinlichkeit der Konzeption im „spontanen Zyklus“ nimmt ab in Abhängigkeit vom Alter der Frau und des Partners (Dietrich).
- Die Schwangerschaftschance im IVF-Zyklus nimmt ab 30. Lebensjahr der Frau kontinuierlich ab.
- Risiken, die während der Schwangerschaft und um die Geburt herum entstehen, nehmen mit zunehmendem Alter zu.
- Die erwartete altersspezifische Rate an Chromosomenstörungen und anamnestische Schwangerschaftsrisiken nehmen mit zunehmendem Alter zu (Diedrich).
- Der Aufschub der Kinderrealisation ist bei vielen Paaren für eine dauerhafte Kinderlosigkeit verantwortlich (teVelde).
- Psychologen weisen darauf hin, dass Spätmutterschaft oft mit großen psychischen Leiden, Enttäuschungen/ neuen Hoffnungen, neuerlichen Enttäuschungen, aber auch oft mit Belastung der Partnerschaft verbunden sein kann.
- Psychosozialen Aspekte von Fertilitätsstörungen bei spätem Kinderwunsch (Wischmann): Die 38jährige Frau hat nur eine halb so hohe Schwangerschaftschance wie die 28jährige Frau.
- Infertilität wird von vielen Frauen als schlimmste emotionale Krise im Leben empfunden.
- Die reproduktionsmedizinische Behandlung stellt für viele Frauen zusätzlich eine starke psychische Belastung dar. Die emotionale Belastung steigt mit der Zahl erfolgloser Behandlungszyklen in den ersten Jahren an.
- Idiopathische Sterilität wird häufig noch mit psychogener Sterilität gleichgesetzt („psychogenic infertility model“), d.h. viele denken, Paare deren Sterilitätsursache mit den bekannten Untersuchungsmethoden nicht zu finden ist, sind auf Grund von Veränderungen in ihrer Psyche steril.
Sozialwissenschaftler sehen die Folgeprobleme der Spätmutterschaft in den hohen finanziellen Aufwendungen für medizinisch assistierte Schwangerschaften, soweit die Kassen die entstandenen Kosten nicht übernehmen. Soziologen verweisen auf die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung und damit zusammenhängend auf die Möglichkeit der Realisierung der gewünschten Erstelternschaft auch nach dem dritten Lebensjahrzehnt – allerdings oft nicht mehr für die Realisierung eines gewünschten zweiten oder dritten Kindes. Die Mediziner verweisen einschränkend darauf, dass die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung nicht zur Verlängerung der fertilen Zeit führt.
Die Folgeprobleme für Gesellschaft und Wirtschaft werden im zunehmenden Bevölkerungsrückgang, zunehmender Änderung der Bevölkerung, Rückgang der erwerbsfähigen und erwerbstätigen Bevölkerung und im Arbeitskräftemangel gesehen. Manche empirische Befunde sprechen allerdings dafür, dass auch die Spätgebärenden ihre gewünschte Kinderzahl mehrheitlich realisieren können, auch dann wenn die oben genannten Folgeprobleme für die betroffenen Frauen auftreten können. Allerdings zeigen andere Befunde, dass Spätgebärende häufiger auf ein zweites oder drittes Kind verzichten. Reproduktionsmedizinische Maßnahmen sind offensichtlich nicht geeignet die Geburtenrate signifikant zu steigern (teVelde). Maßnahmen der Reproduktionsmedizin können nicht die Zahl der Kinder kompensieren, die wegen des Aufschubes nicht geboren werden (teVelde).
Der Geburtenrückgang liegt nicht am Älterwerden der Eltern sondern an der sozioökonomischen Umgebung (Henry-Huthmacher):
- Jedes Kind und noch mehr jedes weitere Kind führt zu finanziellen Einschränkungen für die Eltern – insbesondere bei niedrigen und mittleren Einkommensklassen. Die daraus resultierenden Benachteiligungen konnten die im Laufe der vergangenen 30 Jahre getroffenen familienpolitischen Maßnahmen zwar dezimieren aber nicht beseitigen.
- Für Mütter (aber auch für Väter) ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine den Lebenslauf entscheidende Frage.
Die Politik bzw. Familienpolitik ist bei der Benennung von Leitbildern bezüglich des Zeitpunkts der Familiengründung sehr zurückhaltend bzw. abstinent. Verwiesen wird dabei darauf, dass die Familienpolitik nur Rahmenbedingungen für individuelle Entscheidungen bereitstellen kann bzw. soll.
Auf bevölkerungspolitische Ziele und auf bevölkerungspolitische Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenzahlen wird in Deutschland grundsätzlich verzichtet . (Vaskovics)
Umstrittene und nicht beantwortete Fragen
- Als umstritten gelten die für eine frühere Elternschaft geeigneten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, finanziellen Maßnahmen.
- Es konnten nur Vermutungen angestellt werden im Hinblick auf die Kosten für die Betroffenen bei medizinisch assistierten, Geburten, insbesondere bei Spätgeburten.
- Auch die Frage ist offen geblieben, welche gesellschaftliche Kontextbedingungen (Rahmenbedingungen) könnten Frauen (und Männern) die frühere Realisierung von gewünschten Kindern ermöglichen
- Begriff „Familie“
Empfehlungen :
- Die heranwachsende junge Generation soll über die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Folgeprobleme bei Spätgeburten gesundheitlicher, psychischer und wirtschaftlicher Art aufgeklärt werden (Diedrich): Beratung über den optimalen Zeitpunkt schwanger zu werden :
- Zeit bis zur Schwangerschaft
- Abortrisiko + Fehlbildung
- Erkrankung in der Schwangerschaft, z.B. Diabetes
- Entwicklung des Feten
- Das „Nest“ muss nicht bereits vor der Familiengründung perfekt fertig und voll ausgestattet sein – Mut zur Lücke! Es gilt vermutlich: Je jünger man ist, desto mehr Mut hat man zur Lücke. Übertriebene Ansprüche der Eltern an ihre „verantwortete Elternschaft“ erweisen sich als Hürden bei der Realisierung der Familienplanung. „Man muss nicht die besten Eltern sein. Es genügt ausreichend gute Eltern zu sein“(Henry-Hutmacher).
- Eine Frau, die ein Kind zur Welt bringt und erzieht, darf im Vergleich zu der, die das nicht tut, nicht schlechter gestellt sein. Gefahren des sozialen Abstieges müssen vermieden werden. Eine flächendeckende Obhut für die Kinder als fester Bestandteil der Lebensplanung der Eltern ist die Voraussetzung für eine Entscheidung zu einem Kind. Dies trifft nicht nur auf die Frauen zu, sondern auch auf die Männer, die eine nicht kalkulierbare Phase der Lebensplanung als Paar und Familie häufiger als Frauen scheuen und so bewusst oder unbewusst einen latenten Kinderwunsch ihrer Partnerin unterdrücken.
- Als wichtiger Leitsatz für Unternehmen wird empfohlen:“Elternschft als Karrierechance“ (Reinhardt)
- Die Arbeitgeber, die konkrete innerbetriebliche Maßnahmen für die Elternschaft vor der Überschreitung des biologisch optimalen Zeitpunktes ergreifen, sollen eine Förderung z.B. steuerliche Förderung erfahren. Unter der Annahme, dass ein steuerlicher Anreiz Lösungen der betriebsindividuellen komplexen Wege zur Vereinbarkeit von Mutterschaft, Familie und Beruf stimuliert und diese von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind, ist die Entwicklung eines entsprechenden Steuermodells notwendig (Spätling).
- Die späten Geburten, deren gesellschaftliche und individuelle Rahmenbedingungen für die Betroffenen aber auch für die Gesellschaft, für das Beschäftigungssystem und für das Versicherungssystem und vor allem die sich ergebenden Folgen sollen öffentlich (z.B. in einem Familienbericht der Bundesregierung) thematisiert werden.
- Die Erforschung der Rahmenbedingungen sowie die Folgen der späten Geburten (aber auch der frühen Geburten) soll gefördert werden.
- Politische Maßnahmen müssen sich an der Lebensqualität von Eltern und Kindern orientieren. Sie sollten langfristig und nachhaltig angelegt sein und die verschiedenen Familienformen berücksichtigen, so dass eine Familiengründung leicht in die Biografie eines Individuums integrierbar ist (Mayer-Lewis). Doch die Politik kann keine Leitbilder bzgl. Familien und Elternschaft formulieren, sie könnte aber Voraussetzungen schaffen, dass Paare freier den individuellen Zeitpunkt ihrer Elternschaft bestimmen können (Henry-Huthmacher).